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Über Kunst, Selbstbeobachtung und Automatentheorie
Ein Gespräch mit Stan Lafleur

in: Eckhard Hammel (Hrsg.): Synthetische Welten. Kunst, Künstlichkeit und Kommunikationsmedien, Essen: Verlag Die Blaue Eule, 1996, S. 199-213 (ISBN 3-89206-598-5)

Teil 2

Mein Wohnungsnachbar hat ein frühes Exemplar der "verbesserung von mitteleuropa" in einem Antiquariat auf dem Ramsch gefunden. Ich habe das Buch vor einem Jahr gelesen und viele meiner Gedanken wiedererkannt - und das wurde in den 60ern fabriziert! Wie sind sie darauf gekommen? Ich habe wahnsinnig viel gelacht und weiß nicht, wie ernst Sie das nehmen, ich halte das für eine Gratwanderung...

Das sehen Sie richtig. Wie ich dazu gekommen bin, ist auch nicht so ganz einfach, aber man kann's natürlich versuchen, in wenigen Worten zusammenzufassen. Ich bin der von der Wiener Gruppe, der sich mehr und mehr bekannt machte mit den Ansichten der Wissenschaften und vor allem der Naturwissenschaften. Germanistik war für alle einigermaßen interessant. Aber es gibt kaum einen Wissenszweig, in dem so viel Blödheit verzapft wird wie in der Literaturwissenschaft oder Kunstwissenschaft im allgemeinen, selbst unter den Geisteswissenschaften. Ich habe mich angeleitet und bin aufmerksam geworden durch die Wirkung, die eine bestimmte Art von Dichtung auf mich hatte. Ich habe mich zu fragen begonnen, wie das überhaupt funktionieren mag, daß Worte überhaupt irgendwelche Wirkungen ausüben. Schon ein wenig Nachdenken zeigt einem ja, daß da die verschiedenartigsten Wirkungen entstehen, zum Beispiel emotionale oder auch intellektuelle Wirkungen; daß man durch Worte jemanden dazu bringen kann, daß er etwas anders sieht, als er es bisher gesehen hat; daß er zum erstenmal etwas sieht, was er vorher nicht sehen konnte. Man kann durch Worte aufregen. Das geht durch direkte Ansprache, Beschimpfungen oder auch auf indirekte Weise, indem man Dinge angreift, von denen man annimmt, daß der Leser oder der Hörer sie für heilig hält. Ich habe jedenfalls gesehen, daß die Dichtung auf sowas keine Antwort hat. Das Experimentierende an unserer Schreibweise, das war ein Ausprobieren. Man kann eine Reise, eine Entdeckungsreise natürlich ein Experiment nennen. Man wird in gewissen Leuten vielleicht einen Widerspruch mit dieser Bezeichnungsweise hervorrufen, aber man sagt ja auch: "Ich probier mal aus, wie es dort ausschaut." Das ist vielleicht eine nicht sehr passende Redeweise; aber in diesem Sinn war unser Experiment ein Experiment. Man hat versucht, einen bestimmten Kern zu treffen, indem man versucht hat, etwas besser zu machen, was ein anderer gestern gemacht hat. Man hat gewisse Wirkungen auf sich selber festgestellt, zum Beispiel in Gedichten. (Das Wort "Gedicht" paßt nicht ganz auf das, was da gemacht worden ist, aber es gibt halt keinen anderen Ausdruck.) Man hat eine gewisse Wirkung auf sich selber festgestellt, und dann hat man gefunden: Diese Wirkung könnte ich vielleicht noch stärker erzeugen. Dann hat man herumgetastet: Welche Mittel können das noch stärker machen? Zum Beispiel hört man Musik, die einen in gewisser Weise ergreift, aber noch nicht genug. Man hat das Gefühl, es könnte noch ganz anders kommen - wie macht man das, damit's ganz anders kommt? Da hat man erstmal keine klaren Anhaltspunkte, sondern nur so eine Art Intuitionen, und die reichen oft nicht aus. Oft muß man systematisch herumprobieren, bis irgendetwas kommt, was diesen gewünschten Effekt verstärkt. Oft ist es so, daß dieses Herumprobieren rein an sich selber formal wird, in dem Sinn, daß man dann Dinge ausprobiert, nur weil man irgendein Rezept hat. Dann kann es sein, daß überraschenderweise das Rezept auf ganz andere Art wieder greift. Man wollte eine bestimmte Wirkung erreichen, erreicht aber eine ganz andere durch formales Herumschieben. Jedenfalls waren wir nicht systematisch in dieser Hinsicht, und vor allem haben wir uns nicht nach der Beschaffenheit dieses zu beeinflussenden Substrats gefragt: des Geistes. Wir haben keine Theorien aufgestellt über das Verstehen und das, was eventuell in einem anderen Kopf vorginge, sondern wir haben versucht, das direkt auszulösen. In dieser Weise etwa vergleichbar mit den ersten Psychologen Ende des 18. Jahrhunderts. Das war auf die Dauer für mich nicht sehr befriedigend. Ich bin schnell über die Literaturtheorie hinaus zur Psychologie und zur Philosophie vorgestoßen und bin dann mehr oder weniger durch Zufall eigentlich sehr früh auf Publikationen aus jenem Kreis gestoßen, der dann später als Künstliche Intelligenzforschung bekannt werden sollte; Kybernetik sowieso. Die erste Erwähnung Künstlicher Intelligenz in einem nicht-wissenschaftlichen Buch in deutscher Sprache ist sicher in der "verbesserung von mitteleuropa".

Noch dazu der Cyber-Space-Vorgriff, der recht realistisch aussieht, von der heutigen Entwicklungsstufe aus betrachtet!

Ich freue mich, daß Sie das merken. Die meisten Leute kennen das nicht.

Noch einmal zurück zur Wiener Gruppe: Haben Sie damals Wörterbücher gelesen, um den Sprachschatz zu erweitern?

Diese Wörterbücher wurden gelesen zum Zweck der Produktion von Dichtung, nicht zur Produktion von Bildung. Es fällt ja jedem auf, der genügend Abstand hat, genügend Mut - genügend Abstand von der Konvention und genügend Mut, seinen eigenen Regungen ein bißchen zu folgen - daß das Lesen von Listen ganz merkwürdige poetische Effekte mit sich bringt, unter anderem natürlich das Lesen von Wörterbüchern, seien es nun Fremdwörterbücher oder das Lesen von Kinderbüchern. Da kommen Effekte bei heraus, die unheimlich stark sind.

Das gab's schon bei Rabelais...

Sicher, aber das war aus einem Kinderbuch; das ist direkt abgeschrieben, aber ausgewählt zugleich: "Hier waren Luise und Paul auf dem Land. War es bei euch auf dem Land auch so schön?" Das sind unheimlich starke Sachen, wenn man sie mit genügender Weite versteht. Solche Dinge, die standen an zur Entdeckung. Die unerwartetsten Dinge konnten das sein. Das einzige, was eigentlich damals Bedingung war, war, daß das von dem Verfasser nicht in dem Sinne intendiert sein durfte, in dem er das selber dann interpretierte.

Da braucht man doch jemanden mit der gleichen Wellenlänge!?

Das war sehr wichtig, besonders in den Anfängen. Heute brauche ich kaum mehr solche Resonanz. Schon als ich die "verbesserung" schrieb, nachdem Konrad Bayer tot war - 1964 - hatte ich niemand mehr, dem ich irgendwas zeigen konnte. Rühm ging relativ bald nach Berlin, auch schon im 64er Jahr. Mit Artmann habe ich eigentlich über meine Arbeiten nie gesprochen. Achleitner hat sich schnell - der war Architekt der Ausbildung nach - den Architekturwissenschaften zugewandt. Er ist heute ein anerkannter Historiker der österreichischen Architektur. Rühm und ich haben ein Jahr lang in derselben Stadt gewohnt, in Köln, und wir haben uns ein einziges Mal gesehen. Das liegt nicht einmal daran, daß seine Interessen ganz andere geworden wären als meine oder umgekehrt. Zur Diskussion gehört Unsicherheit, erst einmal, das ist das Beste, was man überhaupt haben kann, denke ich. Dann gehört doch irgendwie die Chance, einander zu überzeugen dazu. Wenn die nicht besteht, ist es ziemlich sinnlos. Was ich heute produziere, kommt allein aus mir, aus dem Angesammelten und aus dem Weiterlaufen, und ich denke nicht, daß ich heftiger oder weniger heftig arbeiten würde, wenn ich eine starke Rezeption hätte. Dann kommt noch was anderes dazu: Es ist immer sehr merkwürdig, zeitlich ein bißchen früher zu sein. Es ist merkwürdig zu sehen, wie die Öffentlichkeit irgendwelche Gedanken aufgreift und populär macht, die ich selbst schon, vielleicht nicht einmal als der erste, vor längerer Zeit gedacht habe. Dies ist immer wieder so gegangen, und bis heute erlebe ich das. Ich habe lange vor der großen Wittgenstein-Welle gewußt, wer Wittgenstein ist und habe Vorträge über ihn gehalten, in den 50ern zur Zeit der Wiener Gruppe. Ich habe einen Aufsatz geschrieben: "Wittgenstein und die Wiener Gruppe". Es war so mit der Künstlichen Intelligenz, mit der ich mich beschäftigt habe, ohne mit jemandem reden zu können.

Es geht Ihnen um eine Synthetisierung von Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften?

Ich hab die Geisteswissenschaften mehr oder weniger total aufgegeben. Ich halte das für eine hoffnungslose Sache und bin bereit die Geisteswissenschaften zu subsummieren: als Dichtung einfach, als meistens langweilige und unfähige Dichtung. Ich sehe die Literaturwissenschaften als Literatur, Selberliteratur, Überliteratur usw.. Nein, ich versuche eher eine Synthese aus ganz anderen Ingredienzien, aus Naturwissenschaften und Selbstbeobachtung. Selbstbeobachtung als Instrument der Psychologie ist ja das ganze vorige Jahrhundert gelaufen und auch in Deutschland bis 1910, 1920 und hat nichts gebracht. Es hat deswegen nichts gebracht, weil der Beschreibungsrahmen ein philosophischer war und kein naturwissenschaftlicher. Die Ausdrücke, mit denen man Selbstbeobachtung beschrieben hat, waren natürlich immer umgangssprachlich, aber die Theorien, die man dahinter gehabt hat - die überhaupt erst diese umgangssprachlichen Termini zu Konstrukten einer wissenschaftlichen Ausdrucksweise gemacht haben - waren einfach zu arm: diese Kantsche Philosophie oder der englische Empirismus. Mehr hatte man nicht. Später um die Jahrhundertwende sind dann die ziemlich verblasenen Ausdrucksweisen von Husserl oder gar von Meinong, die zum Beispiel von Otto Selz, den ich für einen bedeutenden Mann halte, in Anspruch genommen worden. Geisteswissenschaften unter sich, sozusagen. Es hat zur Demise der Selbstbeobachtung geführt, daß kein Theorierahmen da war, innerhalb dessen man eingesehen hätte, was das überhaupt soll, und was da herauskommen soll. Während wir heute doch einen sehr starken Beschreibungsrahmen haben anhand der Automatentheorie, einen Beschreibungsrahmen, der mich zwingt, zu sehen, ob die Phänomene der Selbstbeobachtung irgendwie in vernünftiger Weise auf das bezogen werden können, was ich von der Automatentheorie her weiß. Daß man unsere Denktätigkeit früher oder später ausschließlich in automatentheoretischen Ausdrücken beschreiben wird, und zwar befriedigend beschreiben wird, daran habe ich keinen Zweifel.

Vorstellbar ist das. Das läuft dann letzten Endes auf den Bio-Adapter hinaus?

Ja, sicherlich. Aus dieser Zeit stammen meine Gedanken. Das sind die Anfänge, sozusagen die gefühlten und gelebten Anfänge. Da habe ich begonnen mich auf diesem Sektor zu bilden.

Was haben Sie von der Veröffentlichung der "verbesserung" erwartet, und wer hat tatsächlich darauf reagiert?

Das Buch ist zu einer Zeit geschrieben worden, in der sich meine Einstellung gründlich gewandelt hat, meine Einstellung der Sprache gegenüber, eben ausgehend von dieser Neugier: Wirkungsweise von Sprache und Kommunikation überhaupt. Zum anderen aber habe ich als Künstler begonnen und habe das Lebensgefühl eines Künstlers gehabt: Ich habe auf irgendwelche tiefliegenden Befähigungen gehofft, nicht nur in mir, sondern halt in allen Menschen, die diese Menschen zu Individuen machen und die - etwas plump ausgedrückt - diese Menschen dann auch von Automaten unterscheiden. Und ich habe insbesondere durch die Tradition gebunden auf den vagen Begriff des Bewußtseins gesetzt. Die Frage, wie sie sich mir damals gestellt hat, war: Wie wird Bewußtsein durch Kommunikation geprägt, variiert, manipuliert; und dann natürlich sofort die weitere Frage: Was ist Bewußtsein? Was ist Kommunikation? Die "verbesserung von mitteleuropa" ist eigentlich in der ersten Hälfte ein Versuch, sich freizustrampeln von einem Wust von Gedanken, die meterhoch überall herumliegen und einen am eigenen Denken hindern und dann ein Fertigwerden mit der Tradition, soweit sie sich bei auch nur geringfügiger Prüfung als unbrauchbar herausstellt.

Wie kam es zu Ihrer Lehrtätigkeit an der Kunstakademie Düsseldorf?

Schon Anfang der 70er Jahre sollte ich an der Akademie Professor werden, gerufen von Beuys, mit dem ich befreundet war, als plötzlich dieses Zerwürfnis zwischen Beuys und der Landesregierung passierte. Damit war meine Professur den Bach runter. Beuys hat sich meiner Meinung nach völlig richtig verhalten. Irgendwie habe ich die Sache vergessen, bis jetzt eine neue Generation hierhingekommen ist, die sich an mich erinnert hat. Und als Gomringer emeritiert wurde, der diese Professur für Poetik und Ästhetik hatte, hat man mich vorgeschlagen; der Ruf ist ergangen; ich habe ihn angenommen. Das ist mein altes Thema: Wie wirken Wahrnehmungen auf Individuen, und was geht da eigentlich vor? Vielleicht etwas unerwartet, aber nicht unwillkommen hier, ist dann mein Ansatz, der eben so eine Art naturwissenschaftlicher Ansatz ist. Ich möchte den Studenten beibringen, was ein Verstand ist, so daß er affiziert werden könnte von Worten oder von Bildern. Wie wirken Bilder? Nicht in irgendwelchen schwafelnden Kunstrezensentenausdrücken, sondern eben: Wie hat man sich einen Wirkungsmechanismus vorzustellen? Was kann man heute beim heutigen Stand des Wissens sagen über den Wirkmechanismus, der zum Beispiel ein Wort befähigt, gewisse Veränderungen in einem Verstand hervorzurufen? Das geht nur, indem gewisse technische Grundvorstellungen reingezogen werden müssen.

Die Studenten müssen Informatik lernen?

Automatentheorie. Das ist die Grundwissenschaft der Informatik. Was sind Automaten? Was sind Turingmaschinen? Was ist das genauer, was muß man sich darunter vorstellen? Wie kann man mit dem Begriff arbeiten? Wie kann man die Automatentheorie als Beschreibungsrahmen für philosophische Begriffe verwenden? Alle diese Ausdrücke, die niemand von uns definieren kann, beginnend mit Wahrnehmung, Sehen usw. bis hin zu Verstehen, bis hin zu Ich, Bewußtsein, Selbst werden in meiner Veranstaltung untersucht. Ich versuche zu zeigen, welche Komponenten der Bedeutung dieser Worte, der umgangssprachlichen Bedeutung - das Wort "Bedeutung" ist auch so ein Wort - man heute schon hoffen kann, mit Hilfe von automatentheoretischen, präzisen Vorstellungen zu definieren oder wenigstens verständlicher zu beschreiben.

Das Ziel, das dahintersteckt, ist immer noch im wörtlichen Sinn die Verbesserung von Mitteleuropa?

Ja. Ich habe sehr früh begriffen, daß die Künstler vor nichts mehr Angst haben, als daß sie erklärt werden können. Aber auch für die meisten Menschen ist der Gedanke, daß sie völlig erklärbare Automaten sind, aus irgendeinem Grund unangenehm. Das ist sehr schwer zu sagen, worin dieser Grund eigentlich besteht. Das ist ein unreflektiertes Unbehagen, das bei manchen Leuten sehr virulent werden kann, bei andern halt nur so nebenbei mitschwingt. Was ich begriffen habe, ist, daß es nichts nützt und sogar sehr schadet, auch dem Künstler sehr schadet, wenn er solchen Gedanken nichts anderes als eine blinde Opposition entgegensetzt. Meine Ansicht ist, daß man, auch wenn man an Vorstellungen des eigenen Ich, der Persönlichkeit, seines eigenen Genies, seines Beußtseins festhalten möchte, man sich's trotzdem nicht leisten kann, an scheinbar gegenteiligen Feststellungen einfach vorbeizugehen, mit anderen Worten: Man muß von der anderen Seite her durch, durch das, was heute gedacht werden kann. Man muß wissen, was die Naturwissenschaften über die Struktur des Menschen behaupten können. Aber ich betreibe nicht Wissenschaft, sondern ich versuche, naturwissenschaftliche Denkweisen auf die Philosophie anzuwenden. Das ist ein Metier, das wenig bis gar keine Vorbilder hat. Künstler, die nichts über diese Denkweisen wissen, deren Kunst wird im allgemeinen - es sei denn, es handle sich um eine Art "Mozarte" oder "Picassos", und die sind bekanntlich sehr sehr dünn gesät, falls es sie überhaupt gibt, und falls nicht unsere Auffassung von Mozart und Picasso auch nur ein Popanz ist, den wir uns aus dem Bedürfnis, uns solche Figuren zu machen, aufgebaut haben - nichts Relevantes leisten. Es wird eine Kunst für noch Dümmere sozusagen sein, nach unten hin ist das ja unbeschränkt. Da kommen wir dann bei einer Kunst für Bild-Leser an, und auch da geht's noch drunter. Aber das ist nicht eine Entwicklung, bei der ich an führender Stelle beteiligt sein möchte.

Vielen Dank für dieses Gespräch.

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